Die Postkarte wurde Ende Juni 1908 von Brooklyn (New York) aus von einer Helen an ihre Tante Mary geschickt. Das Foto der auf Grund gelaufenen oder gesetzten Bark erschien 1906 zuerst auf Schwarz-WeiÃ
Ÿ-Postkarten, von denen eine schon am 20. August des Jahres versendet wurde. Das Foto muss also zuvor entstanden sein. Die Farbversion der Karte wurde ab 1907 verkauft.
Das Schiff trägt viele Wimpel, als sei es gerade eingelaufen oder würde sich auf eine unmittelbar bevorstehende Ausreise vorbereiten. Im Wasser und am Strand sind Badende zu sehen: Die Wassertemperaturen bei Coney Island können schon Ende Mai 16°C erreichen, was auch der Durchschnitttemperatur im Juni entspricht. Die eigentliche Badesaison ist allerdings Juli-September. Auf Coney Island gab es zu dieser Zeit drei große Vergnügungsparks, von denen man im Hintergrund die beiden Türme des „Dreamland“ erahnen kann. Der eiserne Pier war 1904 verlängert worden und gehörte wie der abgebildete Strandabschnitt im Vordergrund zum „Steeplechase Park“ (1897-1964). Dieser Vergnügungspark war 1897 von George Cornelius Tilyou (1862-1914) gegründet worden.
Die Bark „Saranac“ wurde 1880 in der Werft von Captain Nathaniel Lord Thompson (1811-1889) in Kennebunk, Maine, erbaut und war damit eines von mindestens 101 Schiffen, die seit den 1850ern hier entstanden. Sie besaß eine Länge von 59,6 m, eine Breite von 10,55 m, eine Masthöhe von 25,8 m und einen Tiefgang von 6,86 m. Ihre Besatzung bestand aus 14 Mann. In den jährlich erscheinenden Schiffslisten der amerikanischen Handelsmarine wird sie stets als „Bark“ bezeichnet, auf der im Unterschied zum Schoner beinahe ausschließlich rechteckige Segel gesetzt werden, während bei diesem vorwiegend dreieckige oder trapezförmige Segel Verwendung finden. Ab 1907 wird die „Saranac“ nicht mehr in den Listen geführt.
In der „Boston Post“ wird Ende 1880 von ihrer Jungfernfahrt berichtet: Sie führte nach New York, wobei die Bark zu diesem Zeitpunkt einer Bostoner Firma mit G.W. Rice als Haupteigentümer gehörte. Ihr erster Kapitän war ein Waldo Hill, der sich einen Ruf für schnelle Fahrten erworben hatte.
Das Schiff fand Eingang in die Geschichtsbücher, indem sie am 26. April 1898 bei der philippinischen Insel Iloilo von dem spanischen Kanonenboot „Elcano“ als Prise eingebracht wurde, das einzige US-Fahrzeug, dem dies widerfuhr. Nur führte die „SV Saranac“ zu diesem Zeitpunkt ihre amerikanische Flagge an sich zu Unrecht, denn sie war während der Fahrt von Newcastle, New South Wales in Australien, zu den Philippinen von ihrem Eigentümer William Simpson Jr. in New York zwischenzeitlich an eine englische Firma weiterverkauft worden. Dabei mag es sich um ein Scheingeschäft gehandelt haben: Kapitän James Robert Bartaby (1842-1900) konnte an Bord der „Saranac“ auf seiner Fahrt nichts vom Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Spanien und den USA erfahren haben, und die Versuche Simpsons, Admiral Dewey (1837-1917) vor den Philippinen zur Absendung einer Eskorte für die „Saranac“ zu bewegen, waren gescheitert. Ihre 1650 tons Kohle an Bord des Schiffes gelangten so in spanische Hände. Bartaby scheint ein ungutes Temperament gehabt zu haben, denn er beschimpfte die Spanier so unflätig, dass man ihm den Beschuss seines Schiffes androhte. Die „Saranac“ blieb allerdings nur für kurze Zeit in spanischer Hand, wobei in dieser Zeit allerhand Schäden am Schiff entstanden: Am 1. Mai 1898 fand die sehr einseitige Seeschlacht in der Bucht von Manila statt, wobei die spanischen Schiffe versenkt oder erbeutet wurden. Die „Saranac“ wurde danach wieder ihren neuen/alten Eigentümern übergeben. Bereits am 27. Mai fuhr die Bark unter englischer Flagge mit einer Ladung Zucker nach New York.
Als Vorgänger von Kapitän Bartaby im Zeitraum 1887-1892 ist durch Zeitungsmeldungen ein Captain H.F. Bertelmann Shaw nachweisbar, der durch seine lebhaften Klagen über den Hafen Freemantle 1892 an Konturen gewinnt. Das Schiff gehörte zu dieser Zeit der Firma „Shaw & Simpson“ in New York.
Zeitgenössische Pressemeldungen berichten von weiteren Reisen der „Saranac“: Ab Ende 1886 war sie offenbar im Pendelverkehr zwischen Honolulu auf Hawaii und San Francisco eingesetzt. Eine Tour hin und zurück dauerte ca. zwei Monate. Am 13.04.1887 soll sie dabei in Honolulu mit der Aufnahme von 1763 tons Zucker (31.273 Säcken) einen Rekord für Segelschiffe aufgestellt haben. In den folgenden Jahren zwischen 1889 und 1891 befuhr sie die Strecke New York-San Diego, was zu dieser Zeit eine Fahrt um Kap Hoorn bedeutete. Im Mai 1890 musste sie nach dem Verlust eines oder mehrerer Masten zur Reparatur in Montevideo einlaufen. 1892 ging während eines Hurrikans ein Mann über Bord. 1905 gewann sie ein Rennen mit einer britischen Bark, was ihrem Kapitän J. Bartley [sic!] 6.000$ Gewinn einbrachte: Sie war am 7. April in New York gestartet und hatte die Strecke bis Buenos Aires in 65 Tagen zurückgelegt.
Im Jahre 1906 wurde sie nach einer Rückkehr in ihren Heimathafen New York angeblich für eine erneute Ausfahrt hergerichtet, als sie von Tilyou erworben wurde. Wie das „Daily Kennebec Journal“ im März 1907 zu ihrer damaligen Verwendung wissen will, sollte sie als schwimmendes Museum dienen. Das mag schon sein, aber die ursprünglichen Pläne sahen etwas anders aus: Laut Pressebericht plante Tilyou im September 1906, sie am 22.09.1906 zum traditionellen Saison-Abschluss der Vergnügungsparks, dem „Mardi-Gras“, mit Dynamit zu sprengen. Als Vorbild für dieses „Happening“ diente vielleicht ein Schiffsunglück, das drei Jahre früher geschehen war: Auf der italienischen Bark „Angela E. Maria“ mit einer Ladung von Naphta und Petroleum hatte es nach einer Explosion einen großen Brand gegeben, der den oberen Abschnitt der Bay von New York stundenlang beleuchtete.
Tilyou’s Pläne wurden freilich nicht umgesetzt: Anfang Februar 1908 erschien die Bark mit Foto erneut in der Presse: Hauptgegenstand des Artikels war die Entstehung eines neuen Strandabschnittes, der durch die veränderten Strömungsverhältnisse vom Wrack verursacht worden war. Der Zustand der Bark soll 1908 bereits sehr schlecht gewesen sein; sie sei infolge von Sturmschäden in zwei Teile zerbrochen. Auf dem Foto hat die „Saranac“ nur zwei Masten, der Großmast soll angeblich durch einen Blitzeinschlag verloren gegangen sein. Das Schiff soll sich dort seit 18 Monaten – also seit Juli/August 1906 – befunden haben. Im Sommer 1907 diente es für Vorführungen von Rettungsschwimmern. Dabei handelte es sich vielleicht auch um trainierte Hunde und Seelöwen, die 1907 auf dem Schiff untergebracht waren. Zwischenzeitlich waren am 29. Juli 1907 große Teile des „Steeplechase“-Vergnügungsparkes einem Feuer zum Opfer gefallen. In einem Artikel vom Juni 1908 anlässlich der Neueröffnung des Parks wird das Wrack noch erwähnt, muss also erst später abgebrochen worden sein.
Von einem Schiffbruch der „Saranac“ wird nirgends ausdrücklich berichtet, und sie fehlt in Morris‘ und Quinn’s „Shipwrecks in New York Waters“. 1951 erschien im „Brooklyn Daily Eagle“ ein Artikel zu George Cornelius Tilyou Jr. (1902-1958), einem der Söhne des gleichnamigen Parkgründers. Der erzählte darin von seiner frühesten Kindheitserinnerung im Alter von drei Jahren: Er sei in der Nacht durch den Lärm des Transports der „Saranac“ geweckt worden, die mit Schleppern an Ort und Stelle gebracht worden sei und am nächsten Tag auf den ersten Seiten der Zeitungen Schlagzeilen lieferte.
Tilyou Jr. scheint das Ganze nur als erfolgreiche PR-Nummer seines Vaters betrachtet zu haben. Die wäre dann sowohl unüberlegt als auch ziemlich geschmacklos gewesen, denn etwa zwei Jahre vorher war am 15. Juni 1904 in New York infolge eines Brandes der Raddampfer „General Slocum“ untergegangen – mit 1023 Opfern, darunter sehr vielen Kindern.
Vielleicht hatte die Aktion von Tilyou Sr. doch einen etwas anderen Hintergrund: Einige seiner Park-Attraktionen integrierten mit Tod und Sterben auch düstere Themen, z.B. eine fingierte Autofahrt, die verstörender Weise mit dem Überfahren eines Fußgängers endete. Das gescheiterte Schiff am Badestrand ist vielleicht als eine Art „Memento Mori“ zu verstehen, was ja auch beinhaltet, sein Leben möglichst intensiv zu genießen, so lange man es noch kann.
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