Ein „Canal-Couplet“ von 1901 über den verhinderten Mittellandkanal:
„Wir haben nicht einmal den Mittellandkanal. Das ist wirklich ein Skandal, kein Wasser zum Canal.“ So dichtete Ludwig Tellheim und ließ sein satirisches „Canal-Couplet“ vom Hamburger Musikver
lag von Anton J. Benjamin auf eine Ansichtskarte drucken (gelaufen 1901, Empfänger: Musikdirigent Karnatz in Georgsmarienhütte). Was empörte den Sänger so?
Am 2. Mai 1901 hatte der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II. vorzeitig den preußischen Landtag aufgelöst, um einer erneuten Abstimmungsniederlage zu entgehen. Denn wie schon bei der ersten Vorlage zum Bau des „Mittellandkanals“ im Jahre 1899 verweigerte ihm das Parlament die Zustimmung, allen voran die „Krautjunker“ östlich der Elbe, die mit dem Bau des Kanals befürchteten, dass ihnen durch Billigimporte von Getreide unliebsame Konkurrenz erwachsen würde. 1899 waren es die so genannten „Kanalrebellen“, die ihrem König die Gefolgschaft verweigert hatten. Das waren von Wilhelm II. als Landräte oder Regierungspräsidenten eingesetzte Beamte und so kraft Amtes Abgeordnete. Wilhelm II. war so erzürnt über ihre mangelnde Loyalität, dass er diese achtzehn Herren in den Ruhestand versetzte, ihnen die Teilnahme an höfischen Zeremonien versagte und ihnen keine Auszeichnungen mehr verlieh. 1901 wurde dann Finanzminister Johannes Franz von Miquel, der als stärkster Protektor der Agrarjunker galt, zum Rücktritt genötigt und der Befürworter des Mittellandkanalbaus, Agrarminister Ernst von Hammerstein-Loxten, dankte ebenfalls ab.
In der Zeit um 1900 erlebte das Couplet, eine Art Nachfolge des Bänkelgesangs und Vorläufer des späteren Chansons, seinen Höhepunkt als Publikumsmagnet. Damals waren Hunderte von Coupletsängern in den Varietes und Etablissements unterwegs, doch Tellheims Komik galt als unbezahlbar und seine stets aktuellen Texte verfasste er selbst, ohne dass er sich zu geschmacklosen Witzen herabließ. Er soll eine sehr ausdrucksstarke Stimme besessen haben. In seinem Text wird auch auf das Flottengesetz von 1900 angespielt, mit dem die maritime Aufrüstung des Reiches auf den Weg gebracht worden war: „Das kostet ohne Wahl, Millionen kolossal. Und dafür ohne Qual, gibt’s Wasser allemal. Das ist wirklich ein Skandal. Wo bleibt dann der Kanal?“
Erst mit der dritten Kanalvorlage im Jahr 1904 konnte die Regierung sich durchsetzen. Das „Preußische Wasserstraßengesetz“ vom 1. April 1905 sah den Bau des Kanals - allerdings nicht wie geplant bis zur Elbe, sondern nur bis Hannover - sowie den Bau von Rhein-Herne-Kanal, Datteln-Hamm-Kanal und den Großschifffahrtsweg Berlin-Stettin vor.
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