In der Pionierzeit der Fotografie um 1840 wurden europaweit erste Experimente mit einer neuartigen Technik durchgeführt die der französische Maler Louis Daguerre entwickelte. Die nach ihrem Erfinder
benannte Daguerreotypie war bereits bei ihrer Veröffentlichung ein voll praxistaugliches System, das beeindruckend naturgetreue Bilder lieferte. Der französische Staat war derart überzeugt von Daguerre‘s Patent, dass er es kaufte, und es als das erste praktikable Fotografieverfahren jedermann zur freien und unentgeltlichen Nutzung zur Verfügung stellte.
Zur damaligen Zeit wurden die wenigen Pioniere der Daguerreotypie (ursprünglich Lithographen, Mechaniker, Optiker oder Landschaftsmaler) von Gebildeten als schlaue Leute betrachtet, das einfache Volk betrachtete die wandernden Daguerrotypisten schlichtweg als Taschenspieler. Allerdings machten eben diese „Jahrmarktfotografen“ die neue Technik in Gegenden bekannt wo sich mangels Kundschaft noch auf Jahre hinaus kein Fotograf niederlassen konnte.
Andere Fotografieverfahren hatten damals gegenüber der Daguerreotypie noch den entscheidenden Nachteil der wesentlich längeren Belichtungszeit, boten aber dadurch wiederum die Möglichkeit der Montage. So konnten „kleine Kunstwerke“ geschaffen werden. Maler und Retuscheure legten in fotografischen Studios Figuren farbig an und fügten zunächst je nach Wunsch des Kunden Landschaften oder passende Interieurs, später vor allem „kosmetische Korrekturen“ hinzu.
Erst mit der Patentierung des Carte de Visite-Verfahren von Andrè Disdéri im Jahre 1854 begann der Siegeszug der Fotografie.
Disdéri verkleinerte das Format auf 6x9 cm, machte sein Produkt dadurch um ein vielfaches günstiger und ganz entscheidend; er konnte seinen Kunden erstmalig mehrere Abzüge des gleichen Motivs anbieten. Dadurch machte er fotografische Portraits, die sich bis hierhin nur Adelige und reiche Bürger leisten konnten plötzlich für die aufsteigenden Schichten des Bürgertums erschwinglich. Die Zahl derer die sich an der neuen Technik probierten wuchs stetig, und das Bedürfnis der sparsamen Bürger sich den oberen Schichten anzuschließen, führte zur Beschleunigung der technischen Entwicklung eines neuen Gewerbezweiges in Frankreich.
In Deutschland ließ der Erfolg der CdV zunächst auf sich warten. Erst 1859 als Napoleon III. sich entschloss, sein nach Italien ausziehendes Heer warten zu lassen, nur um noch bei Disdéri ein Portrait machen zu lassen, welches dieser dann massenhaft verkaufte, wuchs ihre Popularität auch im deutschsprachigen Raum zu einer Mode heran. Es wurde bald bei vielen Teilen der europäischen und amerikanischen Bevölkerung, aber auch vereinzelt in Asien und Südamerika, üblich Visitenkartenportraits in Alben zu sammeln und sich gegenseitig zu schenken.
In den USA sprach man von einer „Cartomania“. Zur Zeit des Bürgerkrieges erinnerten CdVs den Soldaten täglich an das wofür er kämpfte - gegen die Gewalt der Konföderierten. CdVs spielten auch eine wichtige Rolle in der Zivilbevölkerung. Christliche Verbände verbreiteten CdVs mit befreiten Sklavenkindern denen Lesen und Schreiben beigebracht wurde um das neue Amerika zu zeigen, dass durch seine neuen Bürger zu neuem Wohlstand gelangt.
In England wurden im Zeitraum 1861 bis 1867 zwischen 300 und 400 Millionen CdV jährlich hergestellt und selbst Queen Victoria war begeisterte Sammlerin und im Besitz von 100 Alben.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass auch Frauen fotografische Studios betrieben oder als Fotografinnen arbeiteten, und es in Deutschland zeitweise ernsthafte Sorge unter den Herren der Schöpfung gab, die Fotografie könne sich zu einem rein weiblichen Metier entwickeln. Die Kundschaft kümmerte dies wenig. Die Menschen ließen sich egal ob von Mann oder Frau zu besonderen Anlässen (Kommunion, Konfirmation, Taufe, Einschulung, Weihnachten, Hochzeit, Abschied) für gewöhnlich im Studio vor einer Kulisse fotografieren. Es finden sich aber auch immer wieder Motive im Freien, beispielsweise bei Ausflügen. Regelmäßig wiederkehrende Motive neben den gewöhnlichen Einzelportraits sind Studenten, Soldaten, Berufe und Prominenz (Adel, Militär, Schauspieler, Schriftsteller, etc.). Aber auch andere, teils obskure Motive (Erotik, Tod, Haustiere, Kunstwerke) und beliebte Ortsmotive fanden ihren Weg auf die CdV.
Um 1880 wurde auch die größere Kabinettkarte (10 x 15 cm) angeboten, doch blieb das kleinere Standardformat bis zum 1. Weltkrieg das meist verwendete.
Heute sind CdVs wichtige Zeitzeugnisse für Historiker und Soziologen und erfreuen sich auch Aufgrund ihres zeitlich gut zu verordnenden Niedergangs vor gut 100 Jahren bei immer mehr Sammlern großer Beliebtheit, denn nach 1915 war das Format nur noch vereinzelt zu finden.
CdVs ermöglichen uns Aufgrund ihrer vielschichtigen Motive einen einzigartigen und sehr persönlichen Einblick in die Vergangenheit. Da in beinahe jedem größeren Ort ein Atelier beheimatet war, welches auf dem Revers (der Rückseite des Trägerkartons) angegeben wurde, kann beinahe jede Fotografie, bzw. das Studio in welchem sie aufgenommen wurde, oder der Fotograf der sie aufnahm, topografisch zugeordnet werden - was selbst das "gewöhnliche Portraitfoto" aufgrund dieser eindeutigen Zuordnung zu einem beliebten Sammelobjekt macht.
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